Literarisches Schreiben am Atem – zu einer im Atem begründeten Schreibwerkstatt

Literarisches Schreiben am Atem ist ein Weben auf leisen Socken zwischen Atemhocker und Schreibtisch. In meiner Praxis biete ich, eingebettet in das Angebot der Atemseminare, eine Schreibwerkstatt an. Aus Impulsen, die dem stillen Sitzen am Atem, aber auch der freien Bewegung entspringen, entstehen hier Texte – oft Verse, manchmal auch Kurzprosa oder Collagen. Entwürfe, die ihren Anfang außerhalb einer Atemstunde gefunden haben, können aufgenommen werden und vertiefen sich am Inneren Atem. Verse und Strophen werden beim Tönen auf ihre leibliche Rückwirkung hin konkretisiert und erhalten am Atem ihren letzten rhythmischen Schliff.

Dieses Schreiben verstehe ich als einen seelisch-geistigen Umgang mit den Erlebnissen und Erfahrungen, die im Leben wie in der Atemarbeit individuell durchlebt werden. Die Entwicklung der Texte dient nicht nur dem Ausdruck, sondern ist – auf dem Weg der Durcharbeitens eines Textimpulses bis zur lesbaren Form – selbst ein eigenständiges Geschehen der Integration und der Bewusstwerdung. Die Wechselwirkung, die sich im kreativen Prozess zwischen Seele und Geist entfaltet, entfaltet sich innerhalb der Leibwirklichkeit. Im Raum der Empfindung sichert das Schreiben seine Verbindlichkeit ab und prüft hier auch seine Relevanz.

Das Gedicht, das ich als erstes vorstellen möchte, ist in einer Zeit entstanden, in der ich meine Erfahrungen, wie Atem und Schreiben ineinander greifen, auch für mich selbst genauer fassen wollte.

aus dem Brunnen, in dem der Himmel sich spiegelt, schöpfen
im feuerverzinkten Eimer die Haarrisse, die Beulen
auf den Händen das Blau hinauftragen

am Morgen Feld und Welt weitherzig beregnen, auch
die spröden Lippen jener alten Frau benetzen, die
der Bleistift soeben gezeichnet hat, so dass

die Wunden sich schließen, einen Winkel Wüste wässern
in am Horizont aufgrünender Oase Ureinwohnern gleich barfüßig
mit dem Palmwedel Kühlung zufächeln

dem Neugeborenen, dessen Sinne schlafen, dessen Träume
auf einem weißen Blatt Papier
einem Du entgegen ins Leben wachsen

Texte, die sich in unverfälschtem schöpferischen Prozess entwickeln, möchten gelesen werden: von einem Du. Ob dieses Du auf dem Weg zur Bewusstwerdung dialogisch zwischen Seele und Geist im Inneren oder später auch zwischen einem Ich und einem anderen Du des Außenraumes aufgerufen wird, macht im Schreibprozess keinen großen Unterschied. Schreiben ist immer ein kommunikativer Akt, und Sprache ist nie nur privat. Vor allem die poetische Sprache vermittelt sowohl innerhalb der inneren Ordnung für die eigene Integrität als auch zwischen Innen und Außen des Menschen für eine kommunikative Begegnung – wie der Atem auch. Es folgt ein älteres Gedicht, das ich für diesen Artikel neu am Atem überarbeitet habe.

völlig unerwartet
obwohl die Vase auf dem Tisch doch offensichtlich
der Duft einer Rose
unvorhergesehen flugs
befördert aus meiner kochenden Wut mich
in eine Stille, die ist.

unbegrenzt
im begrenzten Leib umfassend
des Friedens Vollkommenheit
als wären Rose und ich
seit jeher unsterblich wir

Die tiefe Ruhe, die mich schlagartig mit der Wahrnehmung des Rosenduftes ergriff, hatte mich in ein nachhaltiges Staunen versetzt und mein Verständnis werktäglicher Spiritualität wesentlich gefestigt. Sicher kommt den Übungsweisen „Duft und Hauch“ hier eine Schlüsselfunktion zu. Obwohl die Zeilen oben wie eine Beschreibung gelesen werden können, lässt mich die Gedichtform den Moment, den ich bewahren möchte, als Erfahrung direkter und doch geschützter mitteilen, als es mir in einem Darüber-Sprechen möglich wäre. Auf den ersten Blick scheinen die Verse ungeschickt zwischen Auseinanderfallen und Banalität wie trunken zu schwanken – mit dem Inhalt jedoch stimmt das überein. Im leiblichen Mitschwingen gelesen, wird das Gedicht in seiner Substanz erkennbar.

endloses Geröll so weit das Auge reicht
und rote Wüste unter jedem Schritt

vertraut sind der Durst und die peitschenden
Hiebe der Sandstürme, nur

dass es keine Oasen gibt auf dem Mars
und längst kein Atmen mehr

Literarisches Schreiben erfordert dem Stoff gegenüber eine ähnliche innere Haltung wie die, die wir für die bedingungslose Freigabe des Atems in Hingabe und Achtsamkeit immer wieder neu finden müssen. Das Gedicht oben gibt einen empfangenen Eindruck wieder. Wer auf Erden mit beiden Füßen im Atemfluss steht, kann mitunter Phantastisches erleben:

quirlige – Fische
aus der Tiefe drängen
in meinen Wurzeln empor
zwängen sich fröhlich durch den Stamm
aufjauchzend zwischen den grünen Blättern
springen in hohem Bogen sie
dass es nur so platscht und spritzt
aus den Zweigen zurück in den See

Wie der Atem als Lebensfunktion aufgrund seines differenzierten Anpassungsvermögens grundsätzlich auf alle Möglichkeiten des Lebens vorbereitet ist, zeichnet sich das Schreiben am Atem durch seine Schmiegsamkeit an den jeweiligen Stoff aus, die in Form und Inhalt sehr unterschiedliche Texte hervorbringt. Innerhalb dieser Vielfalt wiederum entfaltet sich die eigene Handschrift und wird wiedererkennbar wie der eigene Atem.

Durch die Coronamaßnahmen übrigens ist die Schreibwerkstatt gleich in ihren Anfängen abgebremst worden. Schneller als gedacht ging dafür das geplante Onlineforum an den Start und hat sich als Ergänzung bewährt.

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Artikel veröffentlicht in ATEM-Die Zeitschrift Ausgabe 1-2022